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Chronologische Analyse

 

Akt 1

Einführung 

Albert Einstein 1921, Fotografie vonFerdinand Schmutzer

Das Stück spielt durchweg in der „Villa“ des Irrenhauses „Les Cerisiers“ (dt. „Die Kirschbäume“), einem Block, in dem nur noch drei Patienten, die Physiker Newton, Einstein und Möbius behandelt werden. Die Kleinstadt, in der sich die Klinik befindet, scheint durch ihre ruhige Lage und die „blauen Berge“ im Hintergrund eine idyllische Umgebung zu bieten. Die dortige „bescheidene“ Universität, die Justizvollzugsanstalt und das „verlotterte“ Irrenhaus selbst jedoch vermitteln eher einen etwas dekadenten und kleinbürgerlichen Eindruck, was bereits auf den Unterschied zwischen äußerer Fassade und den dahinter verborgenen Problemen hinweist.

Gespräch zwischen Inspektor Voß und Oberschwester 

Inspektor Voß kommt ins Sanatorium, um die Umstände des Todes einer Krankenschwester zu klären, die offensichtlich von ihrem Patienten Einstein erdrosselt wurde. Während der Inspektor die Oberschwester zu dem Vorfall befragt, verbietet sie ihm nicht nur wie einem ungezogenen kleinen Jungen das Rauchen, sondern weist ihn auch ständig barsch zurecht, dass es sich bei Einstein keineswegs um einen Mörder, sondern um einen Kranken handle. Die Bewertungsmaßstäbe des Inspektors passen demnach gar nicht zu denen der Oberschwester, die Grenzen zwischen richtig und falsch werden verwischt. In den Augen der Oberschwester ist Voß ein bloßer Störenfried, der in die geordneten Abläufe des Irrenhauses eingreift. Den Tod der Krankenschwester stellt sie als nicht weiter besorgniserregend dar, der Mörder dagegen, den man nebenan Geige spielen hört, wird von ihr bedauert und vorerst vorm Verhör durch Voß geschützt, da Einstein sich zunächst „beruhigen“ müsse.

Gespräch zwischen Inspektor Voß und Newton 

Isaac Newton in einem Porträt vonGodfrey Kneller

Bereits drei Monate zuvor hatte auch Newton seine Pflegerin auf ähnliche Weise getötet. Auch damals konnte der Inspektor den Mörder aufgrund seiner vorgetäuschten Verrücktheit nicht festnehmen. Gemeinsam ist beiden Fällen, dass die Täter von ihrer jeweiligen Krankenschwester geliebt wurden und gedrängt wurden, das Sanatorium mit ihnen zu verlassen, um draußen ein gemeinsames Leben zu beginnen. So kommt es, dass der Inspektor Newton nun einem zweiten Verhör unterziehen will. Der jedoch dreht den Spieß um, bringt das Gespräch auf ein völlig anderes Thema und Niveau und den Inspektor so in eine Situation, der er augenscheinlich nicht gewachsen ist. Voß wird gleichsam selbst zum „Täter“ und mit verrückten Befragungen völlig aus dem Konzept gebracht. Als er sich, immer nervöser werdend, eine Zigarette genehmigen will, erklärt ihm Newton, dass in der Klinik nur die Patienten, nicht aber deren Besucher rauchen dürften, und demonstriert so erneut den fragwürdigen und paradoxen Ordnungsbegriff dieser Institution. Der vorwurfsvolle Hinweis Newtons darauf, dass man zwar einen kleinen Mörder verurteile, den Erfinder der Atombombe jedoch nicht, unterstreicht diese widersprüchliche Moral als Kennzeichen einer bürgerlich grotesken Weltordnung.

Gespräch zwischen Inspektor Voß und Fräulein Mathilde von Zahnd 

Als Voß die Anstaltsleiterin darüber informiert, dass auch Newton sich für Einstein halte, entgegnet ihm diese: „[...] für wen sich meine Patienten halten, bestimme ich“. Die Parallele zu Görings Aussage „Wer bei mir Jude ist, bestimme ich“, ist hier von Dürrenmatt wohl nicht ganz zufällig gewählt. Sie zeigt die Macht und Willkür der Anstaltsärztin und lässt sie zur Inkarnation des Bösen werden. Als Voß ihr klarmachen will, dass nach dem nunmehr zweiten Mord an einer Krankenschwester Sicherheitsmaßnahmen dringend erforderlich seien, suggeriert sie dem Inspektor, die Morde an den Krankenschwestern seien eine Folge der Deformation der Gehirne durch Radioaktivität. Da jedoch der dritte Insasse nicht mit Radioaktivität in Verbindung gekommen sei, gehe von ihm keine Gefahr aus. Außerdem mordeten Gesunde schließlich „auch und bedeutend öfter.“

Besuch von Frau Rose 

König Salomo in einer russischen Ikone

Möbius bekommt nach 15 Jahren wieder Besuch von seiner Frau Lina Rose, die sich inzwischen von ihm hat scheiden lassen. Sie wird begleitet von ihrem neuen Mann, Missionar Oskar Rose, und Möbius' drei Kindern Adolf-Friedrich, Wilfried-Kaspar und Jörg-Lukas. Der erste Auftritt der Familie Rose dient als Einführung in die eigentliche Handlung und gibt Hintergrundinformationen zu seiner Familie und seinem beruflichen Werdegang. Seine scheinbare Verrücktheit bekräftigt Möbius zum einen durch sein äußeres Verhalten: Er gibt zunächst vor, seine Familie nicht zu erkennen und setzt sich in einen umgedrehten Tisch, um einen „Psalm Salomos, den Weltraumfahrern zu singen“ zu rezitieren. Immer leidenschaftlicher und aberwitziger wird sein apokalyptischer Vortrag, bis er sich schließlich in einen Tobsuchtsanfall steigert und seine Familie unter Verwünschungen aus dem Zimmer treibt - eine inszenierte Maßnahme, mit der er versucht, den Kontakt zu seiner Familie endgültig abzubrechen (ohne ihr den Abschied unnötig schwer zu machen), sich den weiteren Aufenthalt in Les Cerisiers zu sichern und so die Welt vor den Folgen seiner Erfindung zu bewahren.

Der karikaturistisch überzeichnete Auftritt der Familie gibt sie der Lächerlichkeit preis. Der unbedingte Wunsch, den idyllischen äußeren Schein einer harmonischen Ehe und die bürgerlichen Konventionen wahren zu wollen, entlarvt deren Starrheit. Durch Frau Roses übertriebene Hingabe an ihren Ex-Gatten „Johann Wilhelmlein“ - sie hat einst nicht nur sein Studium finanziert, sondern bezahlt jetzt auch seinen Sanatoriumsaufenthalt - und durch ihre scheinbar selbstlose, frömmelnde Aufopferung für ihren neuen Mann, den Missionar, der weitere sechs Kinder mitbringt und somit weitere Opfer von Frau Rose fordern wird, führt sie das Gebot der christlichen Nächstenliebe ad absurdum und will im Grunde nur von allen bedauert werden.

Gespräch zwischen Möbius und Schwester Monika 

Die Krankenschwester Monika Stettler gesteht Möbius ihre Liebe: sie glaube an ihn und den ihm erscheinenden König Salomo. Zunächst versucht er noch, ihr ihre Gefühle auszureden. Als sie sich jedoch nicht beirren lässt und vorschlägt, ihn heiraten und eine Familie gründen zu wollen, sieht Möbius die Geheimhaltung seiner Forschung gefährdet und erdrosselt seine Geliebte mit einer Vorhangkordel. Die erneute Wende, die diese Szene bringt, hat vorwiegend dramaturgische Funktion, denn der Tod der dritten Krankenschwester dient Fräulein Doktor von Zahnd dazu, Möbius vor aller Welt unglaubwürdig zu machen.

Akt 2 

Die ersten zwei Szenen des zweiten Akts wiederholen die Untersuchungsszenen des ersten Akts, jedoch mit „umgekehrten Verhältnissen“: Die äußere Handlung stimmt weitgehend mit der des ersten Akts überein, die Meinungen und Dialoge sind jedoch gespiegelt. - Die toten Krankenschwestern sind inzwischen durch kräftige männliche Pfleger ersetzt worden, allesamt Meister des Kampfsports.

Gespräch zwischen Inspektor Voß und Fräulein Mathilde von Zahnd 

Der Inspektor, erneut zur Befragung erschienen, hat inzwischen die Ordnungsprinzipien des Irrenhauses akzeptiert und korrigiert sogar Fräulein von Zahnd: Sie spricht von Möbius als einem „Mörder“, er nur von einem „Täter“. Sie spielt die Verwirrte und zeigt sich von Möbius' Verbrechen überrascht. Er lehnt die Verpflichtung zur Aufklärung ab und kapituliert vor einer Situation, die er ohnehin nicht ändern kann - Dürrenmatts ironische Empfehlung von Anpassung statt Widerstand als Kritik an einer Gesellschaft, die sich vor der Verantwortung drückt.

Gespräch zwischen Möbius und Fräulein Mathilde von Zahnd 

Möbius redet sich wie zuvor mit dem Hinweis auf den König Salomo heraus, der ihm nicht nur zu seiner Genialität verholfen habe, sondern ihm auch erschienen sei, um ihm die Anweisung zum Mord zu erteilen. Obwohl seine Verrücktheit nur gespielt ist, glaubt ihm Fräulein von Zahnd – ein Zeichen ihrer immer klarer zu Tage tretenden eigenen Verrücktheit.

Gespräch zwischen den drei Physikern 

1. Teil: Die drei Physiker geben gegenüber ihren Mitbewohnern zu, dass sie in Wahrheit nicht verrückt sind. Newton heißt eigentlich Alec Jasper Kilton, ist der Begründer der „Entsprechungslehre“, hat sich als Agent (vermutlich beim CIA) verpflichtet und steht für den kapitalistischen Westblock. Ähnlich Einstein, der in Wirklichkeit Joseph Eisler heißt, den „Eisler-Effekt“ entdeckt hat und für den kommunistischen Ostblock steht. Beide sind hinter den Arbeiten von Möbius her, der „das System aller möglichen Erfindungen“, die sogenannte „Weltformel“ entdeckt zu haben glaubt und diese zu schützen versucht, indem er sich als Irrer hat einliefern lassen. Jeder der beiden Agenten will Möbius' Forschungsergebnisse für sein Land ausspionieren. Beide ziehen ihre Pistole, erkennen jedoch die Sinnlosigkeit eines Duells, da beide gleich gut mit der Waffe umgehen können.

2. Teil: Der Diskurs zwischen den Physikern über die Möglichkeit des wissenschaftlichen Forschens in der heutigen Welt ist der gedankliche Höhepunkt des Stücks. Dabei vertreten die Physiker folgende Positionen:

Einstein (Eisler) Newton (Kilton)
wollen Möbius für ihre jeweilige Regierung gewinnen
  • mahnt Möbius an seine Pflicht als Wissenschaftler, seine Entdeckungen der Menschheit zu übergeben
  • gibt zu, keinen wirklichen Einfluss auf seine politischen Auftraggeber zu haben
  • fordert statt Neutralität die Entscheidung für ein politisches System

Fazit: Er kann keine Garantie für die Verwendung der wissenschaftlichen Ergebnisse übernehmen und schiebt die Verantwortung auf die Partei

  • verlangt, als Genie müsse man sein Wissen, das Allgemeingut sei, für „Nicht-Genies“ preisgeben
  • versichert, die Freiheit der Physik solle bewahrt werden
  • lockt mit Nobelpreis
  • erklärt, die Wissenschaftler selbst seien nicht zuständig für die Verwendung ihrer Erkenntnisse

Fazit: Er lehnt jegliche Verantwortung ab und schiebt sie auf die Allgemeinheit

Möbius
will im Irrenhaus bleiben
  • entlarvt scheinbare Möglichkeiten einer freien Entscheidung als Sackgasse
  • fürchtet, Kiltons und Eislers Wege können nur in die Katastrophe führen
  • will verhindern, dass das Risiko des Untergangs der Menschheit in Kauf genommen wird

Fazit: Er fordert die Zurücknahme der wissenschaftlichen Erkenntnisse

Ende 

Als Möbius verrät, dass er seine Aufzeichnungen bereits verbrannt habe, erkennen die Agenten, dass ihre erneut aufflammende Rivalität sinnlos geworden ist. Möbius versucht, die beiden zunächst mit moralischen Gründen von der Notwendigkeit des Verbleibens in der Irrenanstalt zu überzeugen: Wissenschaft sei schrecklich geworden, Forschung gefährlich, deren Erkenntnisse tödlich. Als einzige verbleibende Möglichkeit sehe er die Kapitulation vor der Wirklichkeit und die Zurückhaltung seiner Erkenntnisse: „Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.“ Diese Überzeugungsarbeit fruchtet jedoch bei den Agenten nicht, sie wollen die Klinik trotzdem verlassen. Deshalb erinnert Möbius sie an ihre Morde: Falls sein Wissen an die Öffentlichkeit käme, wären die Morde umsonst gewesen und aus den Opfern zum Schutze der Menschheit würden gewöhnliche Morde - und aus ihnen als Täter gewöhnliche Mörder. Er kann sie überzeugen, ihre Gefangenschaft als Sühne für die begangenen Morde anzusehen und so ihren Beitrag zur Rettung der Menschheit zu leisten. Der Ausgang des Theaterstücks scheint daher zunächst positiv: Die Helden opfern sich, die persönliche Schuld wird gesühnt, die gestörte Weltordnung scheint wiederhergestellt.

Fräulein von Zahnd lässt die Physiker von ihren Zimmern holen und entwaffnet die beiden Agenten. Sie erzählt, dass auch ihr der König Salomo seit Jahren erscheine und dass sie ihre Krankenschwestern absichtlich auf die drei Physiker angesetzt habe, sodass sie sterben mussten. Dadurch seien die Physiker als „Täter“ an die Anstalt gebunden worden, da sie außerhalb ja als „Mörder“ gelten würden. Fräulein von Zahnd klärt die drei darüber auf, dass sie Möbius' sämtliche Manuskripte bereits vor deren Vernichtung kopiert und für sich bewahrt habe. Damit bewahrheitet sich auf banale Weise die Behauptung: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“ Während die drei Physiker als vermeintlich Verrückte im Irrenhaus eingesperrt bleiben, wird die Anstaltsleiterin aus den Aufzeichnungen skrupellos Gewinn schlagen, ohne zu bedenken, welch große Gefahren in den neuen Technologien liegen – Technologien, die die ganze Menschheit vernichten können. Die von Dürrenmatt in seinen „21 Punkten“ erwähnte, dramaturgisch notwendige „schlimmstmögliche Wendung“ ist eingetreten.

Schlussmonologe 

In drei abschließenden Monologen wenden sich Kilton, Eisler und Möbius direkt ans Publikum. Die beiden Geheimagenten schlüpfen wieder in die Rollen von Newton und Einstein und informieren in einem knappen Resümee über deren biographische Daten. Möbius identifiziert sich nun völlig mit dem König Salomo: „Ich bin der arme König Salomo.“
Das Ende erinnert an eine Gerichtsverhandlung, in der die Angeklagten das Schlusswort sprechen. Dabei symbolisieren sie drei Stufen des wissenschaftlichen Fortschritts:

  • Newton steht für das klassische Ideal der Einheit der Wissenschaft. Die Resultate der Forschung stellen sich zu seiner Zeit noch als unzweifelhafte Erfolge und Fortschritte für die Menschheitsentwicklung dar, ohne dass ihre kritischen Folgen hinterfragt werden.
  • Einstein befindet sich erstmals im Gewissenskonflikt, die Ergebnisse seiner Forschung nicht mehr kontrollieren zu können, im Dilemma zwischen Wissenschaft und Ethik. Er liebt die Menschen, doch empfiehlt er den Bau einer Massenvernichtungswaffe. Seine Forschung wird als Machtmittel eingesetzt. Einstein begreift die ethische Herausforderung, auf sich alleine gestellt versagt er aber vor ihr.
  • Möbius symbolisiert die Zukunftsvision einer Wissenschaft und Menschheit im Endzeitstadium. Die Menschen haben die Welt durch ihre eigenen Erfindungen zerstört. Der einst reiche, weise und mächtige König Salomo ist arm und elend geworden. Wie er hat auch die Wissenschaft ihre ursprüngliche Kraft und Macht verloren. Sie hat ihre ethische Verantwortung zu spät erkannt und die Menschheit ins Elend geführt.[14]